Fasten unterm Reetdach | Kirsten Wendt

10 Aug 2023  Kirsten  23 minuten lesezeit.

Fasten unterm Reetdach

… 10 Tage Detox im Lanserhof Sylt

Krabbenbrötchen, Pommes, Marmorkuchen, Kakao mit Sahne … So lauten meine Assoziationen, wenn ich an einen rundum gelungenen Tag an der norddeutschen Küste denke. Heimatgefühle setze ich automatisch mit Capri-Sonne und Matschbrötchen im Strandkorb gleich. Essen gehört für mich nun mal zum totalen Glück dazu. Dennoch fiebere ich seit Jahren der Eröffnung des Lanserhof Sylt entgegen, um dort zu fasten. Ich liebe Dünen, Watt, Ebbe und Flut und würde mich dafür auch an jeden anderen friesischen Küstenort mit seiner betörenden Natur begeben. Diese Landschaft ist einzigartig und schützenswert. Aber mal ehrlich: Wo, wenn nicht auf der angesagtesten Insel Deutschlands, passt das neue Medical Spa Resort besser hin?

Ich bin in Nordfriesland geboren und später auf Baltrum aufgewachsen. Die kleinste ostfriesische Insel Baltrum ist das Gegenteil vom großen nordfriesischen Sylt – keine Designerboutiquen und Weinbars, Bollerwagen ersetzen Land Rover. Auch meine nordfriesische Herkunftsfamilie am Festland, nur wenige Kilometer von Sylt entfernt, kommt ohne Schickimicki aus. Niemanden verschlägt es ausgerechnet nach Sylt, um sich in Dekadenz und Einsamkeit zu üben. Dafür gibt es genügend besser geeignete deutsche Inseln in Nord- und Ostsee. Oh, wer solche Sehnsucht nach Westerland verspürt, will Gosch, Sansibar und Reetdächer erleben.

… Tee und Brühe statt Völlerei

Der typische Hamburger fährt in den Frühjahrsferien zum Skilaufen in die Berge. Im Sommer fliegt er nach Mallorca. Und zwischendurch geht’s nach Sylt. Überall trifft er auf seine Hamburger Freunde. Man kennt sich, trinkt gemeinsam Schampus und lässt es sich gut gehen. Soweit zum Klischee. Mein Mann und ich leben seit einigen Jahren in Hamburg und wollen die Vorurteile zumindest ansatzweise entkräften. Wir fahren mit dem Zug nach Sylt, wo ein Chauffeur vom Lanserhof uns pünktlich willkommen heißt. Die Sonne scheint, Marcus hat jetzt schon Hunger, und ich bin bester Laune.

Unser Fahrer, der uns vom Bahnhof Westerland quer über die Insel nach List kutschiert, wechselt ein paar Worte mit einem uniformierten Wachmann, bevor sich die schmiedeeiserne Pforte öffnet und wir einen ersten Blick auf das größte Reetdach Europas erhaschen. Oft enttäuscht die Realität, wenn man zuvor stundenlang durch Bilder und Videos scrollte. Hier ist das Gegenteil der Fall. Es ist mit Sicherheit das beeindruckendste Friesenhaus der Welt. Hier ist ohnehin alles gewaltig: 135 Millionen Euro wurden in 20.000 Quadratmeter Luxus investiert. Spitzen-Mediziner und ausgesuchte Therapeuten sind auf 5000 Quadratmetern medizinischer Behandlungsfläche am Werk. Mindestens 7500 Euro blättert man für den kürzesten Aufenthalt von einer Woche hin. Es gibt nur 68 Suiten, sodass das Personal sich voll auf die Kundschaft einstellen kann.

Lanserhof Sylt Frontansicht Reetdach

Lanserhof auf Sylt

Die Eröffnung wurde mehrfach verschoben, sodass wir unseren bereits gebuchten Lanserhof-Urlaub immer wieder nach hinten verlegten. Als endlich im Sommer 2022 die Türen aufmachten, las ich jeden Schnipsel, der mir in die Finger kam, stets auf der Suche nach Erfahrungsberichten. Wir mussten aus Termingründen mit der Anreise einige Monate warten. Man munkelte, dass das auch ganz gut so sei. Im zukünftigen Ruhepol für Millionäre sei man ohnehin noch nicht fertig, warte auf Handwerker, Mitarbeiter und echte Gäste. Die wenigen Gäste, die schon dort gewesen waren, dienten als eine Art Hoteltester und um die Werbetrommel zu rühren, hieß es. Sollten sie mal machen. Bis wir ankämen, wäre hoffentlich alles perfekt und würde die hohen Preise erklären.

…Ich hab solche Sehnsucht, ich verliere den Verstand

Die Erwartungen und Hoffnungen waren von Anfang an hoch. Die besten Ärzte, die exklusivste Lage, die modernsten Therapien, die erstklassigsten Zimmer. Gefühlt ist trotzdem jeder gegen den Lanserhof. Erstens zu teuer, zweitens passt er nicht in Sylts Natur. Seltsam – ausgerechnet dort, wo kein Mensch mit der Absicht zu sparen hinfährt, spielt nun die Moral eine große Rolle. Plötzlich mokiert sich jeder über das Abtragen einer Düne. Das hat zuvor außer der Inselbewohner auch niemanden interessiert. Mich erstaunt das urplötzlich zum Leben erwachte Umweltbewusstsein all jener Sylt-Fans, die seit Jahrzehnten regelmäßig mit dicken Schlitten durchs Watt knattern und ungerührt den Boden für Golfplätze ebnen.

Es wird heftig diskutiert: Muss das ausgerechnet auf unserem schönen Sylt sein, das seit jeher für … was genau noch mal steht? War Sylt nicht eben jener Ort mit den allerteuersten Häusern in ganz Deutschland? Wer kommt denn hierher, um zu sparen? Wir schon mal nicht. Wir kommen zum Fasten und möchten einige medizinische Baustellen in Angriff nehmen, da wir viel arbeiten und reisen und uns meist die Zeit für Detox und kleinere Eingriffe fehlt. Unsere Gesundheit ist uns wichtig, und genau hier finden wir eine riesige therapeutische und diagnostische Angebotspalette. So wird zumindest geworben, so haben wir es unterschrieben.

Pool innen und außen Lanserhof Sylt

Pool innen und außen Lanserhof Sylt

Die Security steht hier rund um die Uhr am Tor, erklärt uns der Chauffeur. Kein Fremder könne einfach so zum Lanserhof reinspazieren, das möchte die Hotelleitung verhindern. Allein schon wegen der internationalen Gäste, viele davon bekannte Persönlichkeiten. Man schätze deren Privatsphäre und Sicherheit. Wir nicken ehrfürchtig und rollen in der Luxuslimousine in eine riesige, fast leere Tiefgarage, die ich bereits von Pressefotos kenne. Kürzlich hat hier ein Tag der offenen Tür für Insulaner stattgefunden, um für mehr Transparenz zu sorgen. Gulaschsuppe im Parkhaus mit anschließender Führung durch die wichtigsten Räume. Böse Zungen unkten, dass die Reichen oben Delikatessen aus der Sterneküche bekommen, während man das Volk im Keller mit Kantinenfraß abspeist. Doch insgesamt fiel das Echo positiv aus.

Was man durchaus nicht von der öffentlichen Meinung über den Lanserhof Sylt behaupten kann. Die allgemeine Stimmung ist mindestens skeptisch und maximal deutsch: Was soll der dekadente Quatsch? Wieso die Natur opfern für überkandidelte Spinner, die nicht wissen, wohin mit ihrer Kohle? Zwar spuckt Google überschwängliche Jubelschriften aus, doch die Verfasser testeten sich zuvor wohlgemut durch die größten Suiten und kostspieligsten Anwendungen. Wer bleibt objektiv, wenn er dermaßen reich beschenkt wird? Wir bezahlen unseren Aufenthalt im April 2023 leider selbst. Andernfalls hätte ich diesen Artikel vermutlich genau wie meine Vorredner etwas unbedarfter formuliert.

Über Geld spricht man in Deutschland nicht gern, schon gar nicht über viel Geld. Das gilt nicht für den Lanserhof Sylt. Jeder halbwegs seriöse Bericht kommt nicht umhin, zumindest einige Worte über die schwindelerregenden Kosten zu verlieren. Denn genau das ist es, was jeden interessiert: Kostet es wirklich so viel, wie Bunte und RTL berichten? Was können die Ärzte dort, was andere nicht können? Laufen dort wirklich amerikanische Promis und Superreiche rum? Welcher normale Mensch macht so was? Wir befanden uns bereits vor der Anreise im Erklärungsnotstand. Obwohl wir aufgrund unserer Aufenthalte bei Buchinger Wilhelmi – ebenfalls nicht als Billigunterkunft bekannt – schon einiges an kritischen Kommentaren gewöhnt waren („So viel Geld für nichts auf dem Teller!“ „Zieht doch bei uns ein, da bekommt ihr Wasser und Saft für die Hälfte!“), legt unser Umfeld in puncto Lanserhof eine Schippe drauf. „Ihr habt im Lotto gewonnen oder seid vollkommen bekloppt. Oder beides.“

Wir spielen kein Lotto und wollen dennoch hin. Da wir als freiberufliche Autoren arbeiten, reden wir uns das kostspielige Projekt damit schön, gleichzeitig schreiben zu können und sowieso alles in unserem Leben der Recherche dient. Vielleicht lernen wir einen internationalen Filmproduzenten kennen, der unsere Bücher auf die Leinwand bringt, besser noch in die Streamingdienste. Dann werden wir nicht nur gesund und schlank, sondern gehören wie Friedrich Merz zu den selbsternannten Ökotouristen. Der war mit seinem Privatflugzeug zur Hochzeit von Christian Lindner auf die Insel geflogen und bezeichnete dies als Sparmaßnahme, weil sein Sprit billiger als im Dienstwagen sei.

… Resort der Superlative

Mit dem Fahrstuhl geht’s in den Empfangsbereich, der ohne eine Rezeption auskommt. Die Mitarbeiter sitzen hinter Glasfronten in Büros und huschen nach vorn, sobald man sie braucht. Das ist ebenso ungewöhnlich wie die runde Freitreppe, die das Gesamtbild dominiert und sich über fünf Etagen erstreckt. Vieles ist hier anders als in jeder Klinik oder in jedem Hotel, in dem wir jemals waren. Die atemberaubende Architektur ist ein Fest für die Augen. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. Wände, Möbel, und Boden sind in Naturfarben gehalten und schaffen eine harmonische Gesamtstimmung. Die unaufdringliche Blumendekoration passt sich dem Blick durch riesige Fensterfronten nach draußen an, hingegossen in die Dünenlandschaft. Die Optik ist umwerfend und übertrifft in Schlichtheit und Eleganz all meine Erwartungen.

freistehende Wendeltreppe Lanserhof Sylt

freistehende Wendeltreppe Lanserhof Sylt

Eine junge Mitarbeiterin führt uns in unsere Suite, wo die Formalitäten erledigt werden, die man andernorts an der Rezeption vornehmen würde. Diskretion ist angesagt, was einerseits nachvollziehbar ist, andererseits nicht funktioniert: Unser Zimmer ist noch nicht fertig. Zwei Handwerker sind in aller Ruhe mit der Beleuchtung auf unserer Terrasse beschäftigt, es liegt Arbeitsmaterial herum. Das ist allerdings das geringste Problem, zumal wir zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass wir die Männer noch häufiger brauchen werden. Die nicht vorhandene Privatsphäre der Suite ist merkwürdig. Ein Spazierweg führt direkt an unseren Fensterfront vorbei, man kann uns frontal aufs Bett und in die Dusche schauen. Beim Duschen müssen wir die Vorhänge schließen, sonst bewundert uns jeder Fußgänger in voller Pracht. Ich schätze, eines Tages werden Pflanzen für Privatsphäre sorgen, doch noch befinden sich lediglich Setzlinge im Sandboden. Außerdem hatten wir Meerblick gebucht – um diesen zu genießen, müssen wir uns draußen in unseren Strandkorb setzen. Fakt ist, wir befinden uns inmitten einer Baustelle. Bislang ist nur das Haupthaus fertig, an den anderen Gebäuden wird noch gearbeitet, eines davon direkt vor unserer Nase, den Meerblick versperrend. Wieso man uns nicht einfach in eine andere Suite verfrachtet, ist uns schleierhaft. Platz wäre genug vorhanden, denn viel scheint hier nicht los zu sein.

Suite mit Terrasse und Strandkorb auf Sylt

Suite mit Terrasse und Strandkorb auf Sylt

Die Hoteldirektorin sei gerade nicht im Haus, es gäbe viele Anreisen, sie wird uns aber in den nächsten zwei Tagen begrüßen, erklärt die Mitarbeiterin. Spoiler: Dies wird nicht geschehen, weder der Besuch der Chefin noch die zahlreichen Gäste. Es gibt so einiges noch nicht, zum Beispiel ein Verzeichnis der Telefonnummern. Sie rattert einige Zahlenkombis runter, die wir uns merken sollen. Allerdings geht dann später sowieso keiner ran, was dazu führt, dass wir in den ersten Tagen mehrfach zu den gläsernen Büros im Atrium flitzen, um darauf hinzuweisen, dass die Nachttischbeleuchtung und die Lampe neben dem Klo nicht funktionieren. Das trübt unsere Stimmung natürlich. Es ist so ärgerlich – rund um herum all diese Pracht, das perfekte Wetter und Sylts Traumstand vor der Tür. Wir denken darüber nach, wieder abzureisen, weil der Spaß viel zu teuer ist, um sich mit derlei Macken rumzuschlagen. Offensichtlich sind wir mit diesem Wunsch nicht allein. Der Mitarbeiterin rutscht heraus, dass kürzlich Gäste nach nur einem halben Tag abgereist seien, darum mögen wir bitte einmal … hier … zum Beweis unserer Ankunft unterschreiben. Noch ein Spoiler: Wir bleiben bis zum Schluss und werden angemessen entschädigt.

Um die angespannte Gemütslage zu vertreiben, sehen wir uns in Ruhe um. So viel steht fest: Eine exklusiveres Ambiente wird man vergeblich suchen. Es ist perfekt, ob im Wellness- oder Fitnessbereich, in den Wartezonen, Sitzecken, der Bibliothek, am Kamin, im Shop oder an den zahlreichen Getränkestationen. Die Ausstattung lässt keine Wünsche offen, sodass wir beschließen, abzuwarten und dem Ganzen eine Chance zu geben.

… Gesunde Kost auf Basis der Mayr-Kur

Am Abend bekommen wir im großzügig geschnittenen Restaurant urgemütliche Plätze zugewiesen. Spitzenköche verwöhnen die Kundschaft mit moderner, gesunder Kost. Jedem Kurgast wird ein individueller Speiseplan zusammengestellt, das Konzept basiert auf unterschiedlichen Kurstufen. Von nichts bis viel auf dem Teller ist alles möglich, Bratwurst und Bier sind natürlich nicht im Angebot enthalten. Vor jeder Mahlzeit nimmt man Bittertropfen und einen Weizengras-Shot zu sich, der Tisch ist liebevoll gedeckt. Eine große Sache ist das ausgiebige Kauen. Dreißigmal soll jeder Bissen gekaut werden. Ich hab keine Ahnung, ob sich irgendjemand konsequent an diese Vorgabe hält, aber immerhin essen wir deutlich langsamer als sonst. Der Grund ist die Verdauung, die bereits im Mund beginnt. Ich nutze es eher als Verzögerungstaktik. Unser Abendessen schmeckt sensationell, die Abläufe im Restaurant sind einwandfrei – das ist es, was mich wirklich interessiert. Aus mir wird in diesem Leben kein Gesundheitsapostel mehr. Ich bin vollkommen zufrieden, wenn man mir köstliche Speisen zubereitet, die dabei helfen, besser auszusehen und länger zu leben.

Fastenmahlzeit Lans Med Concept auf Basis von F.X. Mayr

Fastenmahlzeit Lans Med Concept auf Basis von F.X. Mayr

Mit dem Fasten kenne ich mich inzwischen recht gut aus und hab sogar schon ein Buch über unsere Erlebnisse mit der Methode nach Buchinger Wilhelmi veröffentlicht. Mein Mann und ich waren in den vergangenen Jahren mehrmals zu Gast in den Kliniken am Bodensee und in Marbella und wissen, wie es ist, auf feste Nahrung zu verzichten. Der Lanserhof hat ebenfalls mehrere Standorte: in Lans in Österreich und am Tegernsee in Bayern. Dort wie hier basiert das Fasten auf der F.X. Mayr-Kurmethode, mittlerweile weiterentwickelt zum sogenannten Lans Med Concept.

Auch wenn ich mental kein Problem mit Nulldiäten habe, sackt mein Kreislauf jedes Mal rapide ab, außerdem leide ich in den ersten Tagen unter Migräne. Ich habe in der Vergangenheit schon alles versucht, auch mit tatkräftiger Unterstützung mehrerer Ärzte. Besonders morgens ist mein niedriger Blutdruck ein Problem, es dauert stundenlang, bis ich einigermaßen munter werde. Einmal probierte ich deshalb bei Buchinger Wilhelmi statt zu fasten eine 800-Kalorien-Diät aus. Damit ging es mir körperlich wunderbar, andererseits benötige ich gar nicht so viele Kalorien. Ich wünsche mir etwas Individuelleres, und freue mich daher unter anderem auf ein paar Bissen Brot zum Frühstück. Bei Buchinger gibt es so was nicht.

Recht dogmatisch sind im Vergleich beide Methoden. Zwar bekräftigen beide Seiten, dass man genau dies nicht tun solle, aber das ist ein frommer Wunsch. Natürlich vergleichen Kunden und wägen ab, was zu ihnen passt. Das beginnt bei der Buchung und endet am letzten Tag auf der Waage. Jeder, der sich im Urlaub für Nahrungsverzicht entscheidet, will abnehmen. Ausnahmen haben wir in all den Jahren nicht eine erlebt. Sobald man mit anderen Gästen ins Gespräch kommt, stellt garantiert spätestens beim zweiten Aufeinandertreffen jemand die Frage nach dem bisherigen Gewichtsverlust.

Sich an die genauen Vorgaben zu halten, wann man Glaubersalz, Basenpulver und Brühe einnehmen soll, gestaltet sich manchmal kompliziert. Oft kollidieren die Zeitpunkte mit anderen Terminen und führen eher zu Stress als Entspannung. Doch der Grundgedanke der Reduktion und Verdauungsanregung gehört zum hiesigen Mantra, und darum lassen wir uns größtenteils darauf ein. Neben den zahlreichen Erklärungen der Experten liegen gut verständlich formulierte Bücher und Broschüren im Zimmer aus, an denen wir uns orientieren.

… Entspannung de luxe

Was für Leute laufen da eigentlich rum? Was zieht man an? Grob wussten wir wegen der vorherigen Fastenreisen Bescheid, aber falls RTL recht hat und Victoria Beckham und Kate Moss wirklich einchecken, möchte ich nicht wie eine deutsche Kartoffel, sondern möglichst international aussehen. Vorsichtshalber hab ich mir eine neue Loungehose gegönnt, auch wenn sie sich kaum von meinen Jogginghosen unterscheidet, außer im Preis natürlich. Tatsächlich ist das deutscheste Label schlechthin das It-Piece im Lanserhof: Nahezu jeder trägt blaue Birkenstocks an den Füßen, denn diese bekommt man direkt bei der Ankunft geschenkt. Ansonsten ist bequemer Look angesagt, keine Frau trägt High Heels, kein Mann Schlips und Kragen. Man sieht viele Leute in Bademantel oder in Sportklamotten durch die Gänge wandeln, dafür ist man schließlich hier. Wer im typischen Sylter Outfit aufkreuzt, kann absolut nichts verkehrt machen. Vielleicht wäre Kate Moss im sexy Wuschellook zum Brühe schlürfen angetanzt, aber während unserer Reise liegt die Promidichte bei null.

Der Lanserhof ist kein Wellnesshotel. Dennoch ist vieles im Erholungsbereich besser als in so mancher Spa-Unterkunft; die beiden miteinander verbundenen Salzwasserpools zum Beispiel. Ich liebe es, zu allen denkbaren Zeiten innen und außen meine Bahnen im 28 Grad warmen Wasser zu ziehen. Nie ist es überfüllt, stets liegt eine mystische Stimmung in der wunderschön angelegten Senke. Draußen wiegt das Schilf sich im Wind, drinnen zünden Mitarbeiter große Kerzen an – herrlich!

Der Entspannungsfaktor bei den zahlreichen Angeboten ist riesig. Wer mag, kann morgens mit einer Gruppe zum Strand spazieren und dort bei Gymnastik den Sonnenaufgang genießen. Ob Yoga, Meditation oder Atemübungen, langweilig wird es nicht. Besonders beliebt sind E-Bikes, die direkt neben der Eingangstür stehen und mit denen man nach Herzenslust über die Insel gurken kann. Ich kann unser Glück kaum fassen, weil wir fast durchgehend strahlenden Sonnenschein haben und bei jeder Gelegenheit rausgehen.

Die Lage am nördlichsten Zipfel der Insel ist sensationell, in dem Punkt werden meine hohen Erwartungen sogar noch übertroffen. Egal, in welche Richtung es uns verschlägt, List belohnt uns immer. Wenn wir von unseren zahlreichen Ausflügen zum Lanserhof zurückkehren, empfängt uns das tiefgezogene, geschwungene Reetdach mit seiner heimeligen Ausstrahlung. Den Bauherren ist die perfekte Symbiose von Architektur und Natur gelungen. Man hat nicht übertrieben mit der Behauptung, Raum zum Sein geschaffen zu haben.

Kirsten und Marcus Hünnebeck mit E-Bikes auf Sylt

Kirsten und Marcus Hünnebeck mit E-Bikes auf Sylt

Wir brauchen einen Arzt

Was hingegen den medizinischen Bereich betrifft, ist noch deutlich Luft nach oben. Wer seinen Mund so voll nimmt, muss liefern. Und das tut der Lanserhof nicht. Zwar fallen sämtliche Behandlungen und Anwendungen exzellent aus, aber man muss sie erstmal bekommen. Vieles von dem, weswegen wir hier sind, ist gar nicht da. Was wir gebucht, auf Anmeldeformularen ausgefüllt, angesprochen und natürlich bezahlt haben, gibt es nicht. Konkret bedeutet dies in unserem Fall, dass die Dermatologie nicht besetzt ist. Wir hatten größere Sachen vor, unter anderem Lasertherapien mit dem allerneuesten Schnickschnack. Nun erfahren wir, dass die entsprechende Dermatologin nur zwei von vier Wochen auf Sylt weilt, in der anderen Zeit arbeitet sie woanders. Pech für uns, wir sind in genau den falschen zwei Wochen hier. Ausweichmöglichkeiten? Fehlanzeige. Vor der Anreise füllten wir online diverse Fragebögen aus. Das hätten wir uns sparen können, wir sind bei der Ankunft unbeschriebene Blätter. Später klappt der Datentransfer zwischen den Mitarbeitern gut, nur im Empfangsbereich hängt es davon ab, wer gerade Dienst hat.

Der Medizinbereich steckt organisatorisch in den Kinderschuhen, was bei solch einem Mammutprojekt nachvollziehbar ist – sofern man seine Kunden darauf hinweisen und nicht den vollen Preis berechnen würde. Mehrmals erscheinen wir zu Arztterminen, die nicht stattfinden, weil die Assistentin von anderen Arbeitszeiten der Ärztin ausging und somit falsche Termine vergab. So was erfährt man nicht gleich bei der Ankunft, wenn man auf dem blauen Sofa im Wartebereich Platz nimmt. Niemand fühlt sich zuständig, denn eine Anmeldung ist nicht üblich. Vielmehr setzt man sich einfach hin und wartet auf seinen Arzt oder Therapeuten. Der holt einen persönlich ab – sofern er denn vor Ort ist. Die leicht anonyme und versnobte Aura in dieser Abteilung ist bedauerlich und unterscheidet sich kaum von einem stinknormalen Krankenhaus. Es sieht nur alles wesentlich hübscher aus.

Zwei Salben, die nach einem Mini-Eingriff verordnet werden, sind nicht vorhanden und müssen bei der Apotheke bestellt werden. Auf den Inseln bedeutet so was größeren Aufwand als am Festland, das ist mir bekannt. Die eine Nacht ohne Creme werde ich überleben und warte gelassen, ohne nachzufragen. Am nächsten Tag komme ich mir schon wie eine lästige Nervensäge vor, aber die Krankenschwester hatte zuvor ausdrücklich betont, wie besonders wichtig eine der Arzneien sei. Abends ist noch immer nichts passiert. Es dauert zwei Tage, bis ich sie endlich habe. Die Apotheke hatte längst geliefert, jemand hatte die Medizin im Schrank vergessen.

Das Procedere ist ein bisschen chaotisch, was wohl auch an der Zettelwirtschaft liegt. Eines Tages sollen die Termine online abrufbar sein, sodass jeder problemlos am Handy schauen kann. Bis dahin erhält man ständig neue Ausdrucke und sortiert in einem kleinen Schnellhefter um. Retrofeeling, das nicht zum fortschrittlichen Anspruch passt.

… Auftanken im Überfluss

Wir hatten im Vorfeld kalkuliert, wie viel Geld wir zusätzlich ausgeben wollen. Die Preise sind transparent und für jedermann einsehbar. Viele Anwendungen und Behandlungen sind im Preis inbegriffen, darüber hinaus ist außerdem alles möglich, was das Herz begehrt. Besonders das Kosmetikangebot ist schier unendlich, und ich träume mich kurz in das Leben der vermögenden Oligarchengattinnen, die hier angeblich absteigen. Immerhin gerate ich wegen der heftigen Preise gar nicht erst in Versuchung, auch wenn ich nicht im Geringsten bezweifle, dass die Anwendungen großartig sind. Kurz versuche ich es mit Schönrechnerei – immerhin finden unsere geplanten Hautarztbehandlungen nicht statt, und meine Hypnosetherapie fällt krankheitsbedingt aus. Ich bin stolz auf mich: Ich spare im Lanserhof – das schaffen bestimmt nur wenige!

Vitamin-C- und Aufbau-Infusion im Lanserhof Kirsten

Vitamin-C- und Aufbau-Infusion im Lanserhof Kirsten

Wir bezahlen wenige Dinge extra, der Großteil der von uns genutzten Anwendungen ist inkludiert und ausnahmslos Spitzenklasse. Ein Mangel an Beschäftigung herrscht auch ohne Zuzahlung nicht. Wegen des tollen Wetters beschließen wir, hauptsächlich vormittags das Lanserhof-Programm zu absolvieren und nachmittags unsere Freizeit zu genießen. Langeweile kommt zu keinem Zeitpunkt auf, ganz im Gegenteil. Niemand ohne Oligarchenkonto muss sich grämen, weil er die Extra-Palette nicht nutzt. Wäre unser Terminkalender noch voller, hätten wir keine Zeit übrig für wunderschöne Fahrradtouren durch die Dünenlandschaft, nach Kampen und an den Lister Ellenbogen. Täglich gehen wir stundenlang spazieren, bummeln durch Keitum und machen es uns anschließend gemütlich. Im Lanserhof finden sich so schöne Plätze zum Hinlümmeln, zum Beispiel am Kamin oder in der beachtlich ausgestatteten Bibliothek. Neben der Wendeltreppe am schwarzen Flügel musizieren Künstler, ich schmökere in einer der Zeitschriften, die überall ausliegen – das Leben könnte schlechter sein, ich hab noch nicht mal Hunger.

Unsere sympathische Ärztin sehen wir neben der Anfangs- und Enduntersuchung regelmäßig. Es ist Teil des Programm, dass ein Arzt mehrere manuelle Bauchbehandlungen durchführt. Dazu legt man sich auf den Rücken, während die Wampe massiert wird. Ob man dabei redet oder entspannt, ist einem selbst überlassen. Ich quatsche die ganze Zeit mit der Top-Medizinerin, die mir viel Wissenswertes über meinen Körper verrät und deren Ratschläge ich auch noch Monate später beherzige.

Breites Leistungsspektrum im Gesundheitsresort

Im Gegensatz zu mir ist Marcus sportlich und erfreut sich der vielfältigen Möglichkeiten. Bei physiotherapeutischen Anwendungen und Massagen kann es ihm gar nicht kräftig genug zur Sache gehen, während ich eine sanftere Gangart bevorzuge. Man bekommt, wen und was man möchte, und kann Termine und Therapeuten verändern oder tauschen. Nach einigen Tagen kristallisiert sich raus, wer besonders angesagt und demnach häufig ausgebucht ist. Durch einen glücklichen Zufall lande ich doch einmal bei einer kosmetischen Gesichtsbehandlung und bin im siebten Himmel.

Ein Besuch in der Kältekammer ist das Nonplusultra. Drei Minuten in Badehose, Socken und Sportschuhen bei minus 110 Grad – muss ich nicht haben, aber mein Mann liebt körperliche Herausforderungen und ist Feuer und Flamme. Beim ersten Versuch kommt er unverrichteter Dinge zerknirscht zurück: Er darf nicht rein, weil sein Blutdruck zu hoch ist. Das nächste Mal läuft es besser, er absolviert einen Durchgang. Begeistert und durchgefroren berichtet er hinterher von dem besonderen Erlebnis. Seine Brustwarzen wurden vorher noch zum Schutz mit Pflastern abgedeckt, er bekam Handschuhe, Gesichtsmaske und Mütze. Das Immunsystem soll gestärkt und der Stoffwechsel angeregt werden, der Vorgang wirkt entzündungshemmend. Obendrein hatten wir irgendwo aufgeschnappt, dass man dabei abnimmt. Stimmt leider nicht. Wir haben unsere Personenwaage dabei, die es beweist.

Apropos Waage. Anders als bei unseren früheren Fastenklinikaufenthalten wird man im Lanserhof morgens nicht gewogen. Bei Buchinger Wilhelmi tanzt man direkt nach dem Aufstehen im Schwesternzimmer an. Dort werden ähnlich wie im Krankenhaus das Befinden abgefragt, mögliche Medikamente verordnet und der Blutdruck sowie das Gewicht gemessen. Uns hat das immer sehr gefallen. Es ist halt ein schönes Gefühl, wenn man morgens feststellt, dass Verzicht und Bewegung vom Vortag sich gelohnt haben. Außerdem verleiht das Lob der Krankenschwestern, man habe schon wieder ein Butterpäckchen abgespeckt, Flügel. Hier ist das anders, diese Messungen finden nur zu Beginn und am Ende statt. Darum sind wir froh, unsere kleine Reisekörperwaage mitgenommen zu haben. Der kontrollierende Faktor entfällt im Lanserhof, was für uns als Fastenkenner okay ist. Für Fastenneulinge finden wir es hingegen suboptimal. Man bekommt Vorschläge an die Hand gegeben, aber ob diese dann tatsächlich durchgezogen werden, entscheidet jeder für sich.

Sitzecke mit Kamin im Lanserhof Sylt

Sitzecke mit Kamin im Lanserhof Sylt

Eine spannende Angelegenheit ist die Bioimpedanzanalyse, bei der die Körperzusammensetzung gemessen wird. Zuerst hielt ich diese Messung des Fett-, Muskel- und Wassergehalts für Spinnerkram, aber da hatte ich mich gewaltig geirrt. Sie gehört in den Bereich modernster Spitzenmedizin. Dummerweise ist mein Resultat nicht spitze: Ich hab obenrum keine Muckis und sollte endlich etwas dagegen tun. Natürlich kommen noch lauter andere Ergebnisse zutage, die einem ausführlich anhand von Bildern und Grafiken erläutert werden. Der anschauliche Tritt in den Hintern erweist sich als effektiv, und ich melde mich endlich zum Fitnesstraining an.

Bei der Messung der Herzfrequenzvariabilität, kurz HRV, wird fortschrittliche kardiologische Diagnostik angewandt. Interessanterweise schlagen unsere Herzen nahezu im Gleichklang. Das führt zu romantischen Gefühlen, auf die wir beim Fasten ansonsten eher selten zurückkommen. Zentrales Thema einer jeden Entschlackung ist nämlich der Gang zur Toilette. Wer besetzt wann und wie lange die Toilette? So viel sei verraten: Das stellt bei uns kein großes Problem dar. Marcus muss nur am Glaubersalzgesöff nippen, schon stellt sich der durchschlagende Erfolg ein. Meine Verdauung interessiert das nicht, stattdessen wache ich morgens mit zittrigen Händen und Schwindelanfällen auf. Nach der Hälfte des Aufenthalts beschließen die Ärztin und ich, das Glaubern aufzugeben, ich vertrage aus unerklärlichen Gründen einfach nicht. Obwohl ich so gern ein richtiger Fastenjunkie wäre, leide ich wie immer körperlich. Auch im Lanserhof beißen sich also die Experten die Zähne an mir aus. Es wäre das erste Mal in dreiundfünfzig Jahren, wenn jemand das Problem beheben könnte.

Am Ende unserer Kur fühlen wir uns fit und erholt. Marcus hat fünf Kilo abgenommen, bei mir sind es drei. Damit bin ich ausgesprochen zufrieden und endgültig von dieser Fastenmethode überzeugt, sie fällt mir leicht. Ob ich sie im Lanserhof Sylt wiederhole, hängt davon ab, wie lange es dauert, bis die Tücken beseitigt wurden. Und wann mein Konto wieder gefüllt ist.

Kirsten am Ellenbogen auf Sylt vorm Leuchtturm List-Ost

Kirsten am Ellenbogen auf Sylt vorm Leuchtturm List-Ost